Die folgenden Inhalte sind eine Zusammenfassung von dem von Nivedita Prasad herausgegebenen Sammelband „Methoden struktureller Veränderung in der Sozialen Arbeit“ (2023, 1. Auflage), Kapitel: Critical Monitoring als Handlungsmethode – sozialarbeiterisches Wissen systematisch für strukturelle Veränderungen einsetzen, von Mareike Niendorf, (87-99).
Einleitung: Vom Einzelfall zur Struktur
Soziale Arbeit bewegt sich ständig im Spannungsfeld zwischen individueller Unterstützung und gesellschaftlichen Strukturen. In der täglichen Praxis werden Fachkräfte mit strukturellen Barrieren konfrontiert, zum Beispiel, wenn Care Leaver*innen nach dem Auszug aus stationären Einrichtungen Schwierigkeiten haben, Wohnraum oder eine Ausbildungsförderung zu erhalten. Oder junge Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt oder Wohnungsmarkt aufgrund ihrer Hautfarbe und Namen rassistisch diskriminiert werden. Diese Probleme sind nicht nur persönliche Schicksale, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Machtstrukturen.
Fachkräfte in der Sozialen Arbeit haben durch die Vielzahl an Kontakten mit Menschen in besonderen Lebenslagen, einen Überblick über bestimmte Problematiken, die andere Berufsgruppen nicht haben. Und haben so ein bestimmtes und wichtiges Wissen, das sie bündeln und systematisieren können.
Hier setzt Critical Monitoring als Handlungsmethode in der Sozialen Arbeit an. Es ist eine Methode, mit der Sozialarbeiter*innen systematisch beobachten, dokumentieren und auswerten, wo Rechte, Standards oder professionelle Leitlinien in der Praxis nicht eingehalten werden. Ziel ist es, strukturelle Missstände sichtbar zu machen und gezielt auf Veränderung hinzuwirken. Das Wissen der Fachkräfte, dass in den Akten schon dokumentiert ist, soll genutzt werden (vgl. Niendorf 2023: 87).
Ein Beispiel ist die Frankfurter Beratungsstelle „response“. Sie berät nicht nur Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, sondern ermöglicht es auch, entsprechende Vorfälle direkt über ihre Website zu melden. Diese Meldungen werden anschließend in einer öffentlich zugänglichen Chronik dokumentiert
Was bedeutet „Critical Monitoring“ in der Sozialen Arbeit?
Der Begriff für die Soziale Arbeit als Handlungsmethode wurde von Nivedita Prasad (2018) geprägt und von Mareike Niendorf weiterentwickelt. Critical Monitoring beschreibt eine Handlungsmethode, mit der das in der Praxis entstandene Wissen über Barrieren und Ungleichheiten genutzt wird, um auf strukturelle Reformen hinzuarbeiten, um Lücken in Verantwortlichkeiten aufzudecken und Aufsichtsbehörden gezielt zu adressieren (vgl. Niendorf 2023: 88).
Menschenrechts-Monitoring im engeren Sinn bedeutet, Informationen über mögliche Verletzungen von Rechten systematisch zu sammeln, zu prüfen und mit bestehenden Standards zu vergleichen. Critical Monitoring überträgt dieses Prinzip auf die Soziale Arbeit:
Sozialarbeiter*innen dokumentieren wiederkehrende Muster in den Lebenslagen ihrer Adressat*innen und prüfen, inwieweit rechtliche, ethische oder institutionelle Vorgaben tatsächlich umgesetzt werden.
Beispiel:
In einer Jugendhilfeeinrichtung fällt auf, dass junge Erwachsene mit unsicherem Aufenthaltsstatus nach der Volljährigkeit seltener Nachbetreuung erhalten. Ein Critical-Monitoring-Ansatz würde diese Beobachtung dokumentieren, systematisieren und mit gesetzlichen Vorgaben (z. B. nach § 41 SGB VIII) vergleichen.
Warum ist Critical Monitoring wichtig?
Niendorf (2023: 88) beschreibt vier zentrale Vorteile dieser Methode:
Systematisierung von Wissen: Alltagsbeobachtungen werden nicht dem Zufall überlassen, sondern bewusst gesammelt und ausgewertet.
Sichtbarmachung von Strukturen: Der Fokus verschiebt sich vom individuellen Fall auf wiederkehrende Muster und strukturelle Ursachen.
Normativer Abgleich: Beobachtete Situationen werden mit verbindlichen Standards (z. B. Berufsethik, Menschenrechten oder gesetzlichen Vorgaben) verglichen.
Verantwortlichkeitsklärung: Die Methode zeigt auf, wer für Missstände zuständig ist und adressiert gezielt Entscheidungsträger*innen.
In der Jugendhilfe kann dies bedeuten, dass Erkenntnisse aus Beratungen genutzt werden, um ungleiche Zugänge zu Hilfen, diskriminierende Ermessensentscheidungen oder Lücken in der Übergangsbegleitung zu dokumentieren und an politische Gremien weiterzugeben.
Wie läuft ein Monitoringprozess ab?
Niendorf (2023: 90) nutzt die Vorgaben des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte für einen Monitoringzyklus. Ein vollständiger Monitoringzyklus besteht aus vier Schritten:
Datenerhebung: Informationen aus Beratungsakten, Fallbesprechungen oder Beobachtungen werden gesammelt.
Dokumentation und Aufbereitung: Daten werden anonymisiert, Indikatoren festgelegt (z. B. „Wie häufig wird Nachbetreuung für Care Leaver*innen abgelehnt?“).
Berichterstattung: Ergebnisse werden objektiv beschrieben und mit rechtlichen oder fachlichen Standards verglichen.
Follow-up: Verantwortliche Stellen werden über die Ergebnisse informiert; Fortschritte oder Reaktionen werden weiter beobachtet.
Dieser Prozess kann kontinuierlich wiederholt werden und ermöglicht damit eine langfristige Beobachtung struktureller Entwicklungen.
Ethische Leitprinzipien
Critical Monitoring berührt sensible Bereiche der professionellen Verantwortung. Niendorf greift dafür die drei Leitprinzipien von Jacobsen (2008:16) auf:
Do no harm: Der Schutz der Menschen/ Adressat*innen steht über allem. Daten dürfen nur anonymisiert verwendet werden, Einverständnisse sind notwendig. Der Prozess muss so gestaltet sein, dass es Lebensrealitäten nicht verzerrt und nicht zur weiteren Stigmatisierung oder Marginalisierung bestimmter Gruppen beiträgt.
Maintain your role: Sozialarbeiter*innen müssen objektiv bleiben und dürfen Ergebnisse nicht zu ihren oder zu Gunsten der Adressat*innen verzerren. Die Leitung einer Einrichtung sollte grundlegend vor Beginn eines Monitoringvorhabens informiert und dafür gewonnen werden. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn das Verhalten der Leitung selbst untersucht wird und bereits feststeht, dass die Ergebnisse extern kommuniziert werden. Adressat*innen können selbst entscheiden, ob sie der Nutzung ihrer Daten für Monitoring zustimmen. Eine Nichtzustimmung darf keine Nachteile für ihre Beratung oder Begleitung haben.
Secure high quality: Datenerhebung und Berichte müssen sorgfältig, faktenbasiert und überprüfbar sein. Ein professioneller Bericht stützt sich auf überprüfbare Tatsachen, liefert Belege, bleibt unparteiisch und nutzt eine sachliche, nicht kommentierende Sprache. Er stellt Informationen in einer einheitlichen Form dar, leitet daraus gut begründete Schlussfolgerungen ab und formuliert daraus Handlungsempfehlungen.
Gerade in der Jugendhilfe, wo Vertrauen und Datenschutz zentral sind, ist es entscheidend, Monitoringprozesse transparent zu gestalten und mit den Adressat*innen offen zu besprechen, wie ihre Erfahrungen genutzt werden.
Praxisbezug: Critical Monitoring für Care Leaver*innen
Ein Beispiel: In einer Stadt wird beobachtet, dass viele Care Leaver*innen keine Anschlussleistungen nach dem 18. Lebensjahr erhalten, obwohl sie laut Gesetz Anspruch darauf haben könnten.
Ein Team von Sozialarbeiter*innen beschließt, dies systematisch zu dokumentieren:
Sie erfassen alle Fälle, in denen Anträge auf Hilfe für junge Volljährige abgelehnt wurden.
Sie vergleichen die Entscheidungen mit den rechtlichen Vorgaben.
Das Ergebnis zeigt, dass bestimmte Gruppen, etwa junge Menschen mit Migrationsgeschichte, besonders betroffen sind.
Der Bericht wird an die Jugendhilfeplanung übergeben, die daraufhin ihre Praxis überprüft.
So wird aus individueller Beobachtung ein Instrument struktureller Veränderung – ohne die professionelle Rolle zu verlassen.
Literatur:
Angstenberger, Benedikt (2021): Vom Wissen zur Tat. Politisches Handeln von Sozialarbeiter*innen in der Praxis. Eine qualitative Untersuchung. In: Dischler, Andrea/Kulke, Dieter (Hrsg.): Politische Praxis und Soziale Arbeit. Theorie, Empirie und Praxis politischer Sozialer Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 181–203.
Jacobsen, Anette Faye (2008): Human Rights Monitoring. A Field Mission Manual. Boston: Martinus Nijhoff Publishers.
Prasad, Nivedita (2018): Statt einer Einführung: Menschenrechtsbasierte, professionelle und rassismuskritische Soziale Arbeit mit Gefluchteten. In: Prasad, Nivedita (Hrsg.): Soziale Arbeit mit Gefluchteten. Rassismuskritisch, professionell, menschenrechtorientiert. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 9–29.
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