Die folgenden Inhalte sind eine Zusammenfassung von Nivedita Prasad aus dem Sammelband „Methoden struktureller Veränderung in der Sozialen Arbeit“ (2023, 1. Auflage), Kapitel: Whistleblowing: Eine ethische Entscheidung aus Gewissensgründen, (189-203).
Einführung: Alarm schlagen statt schweigen
Whistleblowing bedeutet, auf Missstände, unethisches oder diskriminierendes Handeln aufmerksam zu machen, innerhalb oder außerhalb einer Organisation. Wörtlich übersetzt heißt es „die Pfeife blasen“. Doch es geht nicht um Denunziation, sondern um Zivilcourage und Verantwortung: das „Alarm schlagen“ im Sinne eines ethischen Handelns.
In der Sozialen Arbeit, die sich als Menschenrechtsprofession versteht (vgl. Staub-Bernasconi), steht Whistleblowing in direkter Verbindung zur Verpflichtung, das Wohlergehen von den Adressat*innen zu schützen. Damit kann es eine praktische Methode zur strukturellen Veränderung sein, insbesondere dort, wo interne Machtverhältnisse, Diskriminierung oder unethische Organisationskulturen sichtbar gemacht und bearbeitet werden müssen.
Beispiele von Whistleblowing
Nivedita Prasad (2023: 199) nennt in ihrem Artikel mehrere Beispiele für Whistleblowing, die gesellschaftliche Missstände öffentlich machten: etwa die Tierärztin Margrit Herbst, die 1994 auf die Vertuschung erster BSE-Fälle hinwies, oder die Ärztin Cora Jacoby, die bekannt machte, dass Patient*innen aus Kostengründen zu früh entlassen wurden. Auch der Staatsschützer Sven Gratzik, der die politische Einflussnahme auf polizeiliche Ermittlungen in Sachsen offenlegte, kann als Vorbild für Zivilcourage gelten. Besonders relevant für die Soziale Arbeit ist das Beispiel von Inge Hannemann, die als Jobcenter-Mitarbeiterin in Hamburg über einen Blog auf diskriminierende Praktiken gegenüber Leistungsbeziehenden aufmerksam machte und damit zeigte, wie Whistleblowing zum Schutz von Betroffenen und zur Veränderung institutioneller Strukturen beitragen kann.
Anlässe für Whistleblowing im Kontext Sozialer Arbeit
Im Kontext der Sozialen Arbeit entstehen Anlässe für Whistleblowing meist dort, wo professionelles Handeln und ethische Verantwortung in Konflikt geraten. Prasad (2023) beschreibt Situationen, in denen Sozialarbeiter*innen unethisches oder schädigendes Verhalten beobachten, aber organisatorische Strukturen ein Einschreiten erschweren.
Dazu zählen Grenzüberschreitungen wie körperliche Gewalt oder unangemessene Beziehungen zu Adressat*innen, Lügen über erbrachte Leistungen, Verletzungen der Schweigepflicht, Diskriminierung oder der Missbrauch von Machtpositionen.
Auch strukturelle Probleme wie übermäßige Arbeitsbelastung, unprofessionelles Verhalten, Verschwendung von Ressourcen oder die Missachtung rechtlicher und fachlicher Standards können Anlässe sein, Alarm zu schlagen. Whistleblowing kann zudem notwendig werden, wenn gesetzliche Vorgaben Handlungen verlangen, die im Widerspruch zu den ethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit stehen, etwa bei Zwangsmaßnahmen in der Jugendhilfe oder im Umgang mit geflüchteten Minderjährigen.
Ethische Verantwortung und professionelles Mandat
Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit ist durch drei Mandate geprägt: das staatliche Mandat, das Adressat*innenmandat und das Mandat der Profession das Tripelmandat nach Staub-Bernasconi.
Whistleblowing bewegt sich genau im Spannungsfeld dieser Mandate:
Wer Missstände offenlegt, kann gegen institutionelle Interessen verstoßen, erfüllt aber gleichzeitig die ethische Verpflichtung, Adressat*innen der Hilfen vor Schaden zu schützen.
Hier zeigt sich, dass ethisches Handeln nicht immer institutionell konform ist. Whistleblowing macht sichtbar, wie professionelles Gewissen, Rechtsnormen und strukturelle Bedingungen in Konflikt geraten können und wie Sozialarbeiter*innen Verantwortung übernehmen können, selbst wenn sie dafür Risiken eingehen.
Whistleblowing in der Praxis der Sozialen Arbeit
Whistleblowing findet oft nicht in spektakulären politischen Kontexten statt, sondern im Alltag sozialer Organisationen. Beispiele aus Prasads Text zeigen Fälle, in denen Mitarbeitende unprofessionelles oder diskriminierendes Verhalten in Einrichtungen der Jugendhilfe, Pflege oder Flüchtlingshilfe meldeten – häufig mit persönlichem Risiko.
Ein prägnanter Fall geschildert von Prasad (2023:197): Eine Fachkraft in einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete berichtete von rassistischen Äußerungen und entwürdigenden Praktiken. Durch ihr Eingreifen wurde eine interne Untersuchung eingeleitet, und es kam zu personellen Neubesetzungen. Die Qualität der Betreuung verbesserte sich spürbar. Dieses Beispiel zeigt: Whistleblowing kann Organisationskultur verändern, Adressat*innen vor Diskriminierung schützen, Veränderungen in Gang setzen
Formen und Wege des Whistleblowings
In der Fachliteratur wird zwischen internem, externem und vertraulichem Whistleblowing unterschieden:
Intern: Hinweise innerhalb der Organisation (an Vorgesetzte, Personalrat, Kolleg*innen).
Extern: Weitergabe von Informationen an (Aufsichts-)Behörden, Verbände oder Medien.
Vertraulich: Weitergabe an eine vertrauenswürdige, ressourcenstarke Person außerhalb der Organisation, die im öffentlichen Interesse handelt (z.B. Berufsverbänden, Gewerkschaften, Hochschullehrer*innen, örtliche Pfarrer*innen o. Ä. (Prasad (2023:199)).
Gerade diese dritte Form ist für die Soziale Arbeit bedeutsam, weil sie den Schutz von Hinweisgeber*innen stärkt und dennoch strukturelle Probleme sichtbar macht.
Risiken, Schutz und Qualitätsentwicklung
Whistleblowing ist mit Risiken verbunden, von Kündigung über Mobbing bis zur Isolation im Team. Diese Risiken sind nicht gleich verteilt: prekär Beschäftigte tragen oft größere Lasten, wenn sie Missstände melden. Deswegen ist es wichtig abzuwägen, für welche Person es möglich ist, sodass möglichst keine finanziellen und aufenthaltsrechtlichen Nachteile zu befürchten sind. Mitarbeiter*innen müssen berücksichtigen, ob sie eine Kündigung auf sich nehmen könnten.
Eine Risikoeinschätzung ist daher wichtig: Wie gravierend ist der Missstand? Welche Belege gibt es? Welche Schutzmechanismen bestehen? Nur wenn Einrichtungen klare Beschwerdestrukturen, Ombudsstellen und eine offene Fehlerkultur haben, kann Whistleblowing zur Qualitätsentwicklung beitragen, statt als Bedrohung wahrgenommen zu werden.
Manche Träger integrieren interne Vertrauenspersonen. Dies senkt die Hemmschwelle für Mitarbeiter*innen, Missstände anzusprechen.
Whistleblowing als Beitrag zu struktureller Veränderung
Whistleblowing ist mehr als individuelles Handeln. Es ist ein Werkzeug sozialer Kontrolle von unten und trägt dazu bei, die Soziale Arbeit als reflexive, menschenrechtsorientierte Profession zu stärken.
Indem Fachkräfte strukturelle Widersprüche sichtbar machen, etwa zwischen institutionellen Zwängen und professionellen Werten, fördern sie Lernprozesse in Organisationen und politische Sensibilisierung für ethische Standards.
So verstanden, ist Whistleblowing eine Methode struktureller Veränderung, weil es bestehende Machtverhältnisse herausfordert und dazu beiträgt, Soziale Arbeit zu einer lernenden, verantwortlichen Profession weiterzuentwickeln.
Das Wichtigste zusammengefasst
Literatur:
Angstenberger, Benedikt (2021): Vom Wissen zur Tat. Politisches Handeln von Sozialarbeiter*innen in der Praxis. Eine qualitative Untersuchung. In: Dischler, Andrea/Kulke, Dieter (Hrsg.): Politische Praxis und Soziale Arbeit. Theorie, Empirie und Praxis politischer Sozialer Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 181–203.
Jacobsen, Anette Faye (2008): Human Rights Monitoring. A Field Mission Manual. Boston: Martinus Nijhoff Publishers.
Prasad, Nivedita (2018): Statt einer Einführung: Menschenrechtsbasierte, professionelle und rassismuskritische Soziale Arbeit mit Gefluchteten. In: Prasad, Nivedita (Hrsg.): Soziale Arbeit mit Geflüchteten. Rassismuskritisch, professionell, menschenrechtorientiert. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 9–29.
Derzeit befindet sich unsere Website noch im Aufbau. Daher sind viele Inhalte noch nicht abrufbar. Abonnieren Sie einfach unseren Newsletter und erfahren Sie per E-Mail von sämtlichen Neuigkeiten rund um das Beratungsforum JUGEND STÄRKEN: Brücken in die Eigenständigkeit.